Bei den Heiden
Ich mag es, fränkisch zu sprechen. Vor allem hier oben, im Norden. Ein überraschender und ebenso heftiger Regenschauer ist mit »Kiddlwascher« klar auf dem Punkt gebracht. In diesem Wort fühle ich meine durchnässten Klamotten, ich rieche die Aromen des Regens, und ich spüre, wie das T-Shirt an meiner Haut klebt. Ja, ich erlebe sogar die »Worschdichkeid«, die sich einstellt, wenn man nichts mehr machen kann.
Die Sprache meiner Herkunft hat sich vor Jahrzehnten auf meine Seele gestempelt. Dort klebt sie nun und will nicht mehr weg.
Ein Bekannter aus Franken erzählte mir unlängst, er habe während einer sommerlichen Wanderung durch »die Fränkische« einem mit Strom gesicherten Zaun für Rindviecher berührt. Er sah mich an, deutete auf seine Finger und meinte: »Des hodd vylleichd gschbraddzld!«
Kann man es lautmalerischer auf den Punkt bringen? Gibt es eine treffendere Bezeichnung für einen leichten Stromschlag?
In »gschbraddzld« steckt eine ganze Welt, zumindest für mich. Als er davon erzählte, glaubte ich, ich hätte diesen Stromstoß abbekommen. Ich schüttelte unwillkürlich meine Hand und erinnerte mich an die Elektrofallen für Mücken und anderes Stechgetier, die ich im Italien meiner Kindheit kennenlernte. Während ich, zehnjährig, elfjährig, mit meinen Eltern Canasta spielte, begleitete uns eine »Symphonie der verendeten Mücken« – wie es Arnold Schönberg bezeichnet hätte … Es schbrazzelte nur so drauflos. Viele der Tiere landeten – vollkommen willenlos – auf ihrem eigenen elektrischen Stuhl, und manchmal dauerte es etwas länger, bis das »Geschbrazzel« aufhörte; wahrscheinlich hatte sich eine Hornisse in den blau schimmernden Vernichtungsapparaturen verfangen.
Hier oben im Norden dagegen wird dudensprachlich korrekt geredet. Hier sagen die Schornsteinfeger tatsächlich – Schorn-»st«-ein, wobei sie das »st« ganz gezielt betonen. Wenn etwas klein ist, ist es in Lübeck »lütt«, und die Kinder, die einen »Wiss« müssen, sagen »pieschen«. Wenn ein »Aa« im Anmarsch ist, wird »geschietert«.
Dem muss Einhalt geboten werden, sagte ich mir. Seither bereitet es mir eine diebische Freude, meine fränkischen Wurzeln in meine halbfränkischen Kinder einzupflanzen. »Habergaas« und »Ohrenhöllerer« konnte ich bereits durchsetzen. Zumindest zeitweise. Neuerdings werde ich von unserem Vorschulkind korrigiert. »Das heißt Weberknecht, Papa! Und Ohrenkneifer!«
»Aber Emil«, sage ich, »auf Fränkisch baut sich ein Bild im Kopf auf. Die Habergaas stelzt über den Boden, als wollte sie gleich im Zirkus auftreten. Und beim Ohrenhöllerer spüre ich geradezu, wie das Tier immer tiefer in meine Ohren kriecht.«
Emil sah mich erschrocken an. »Macht der das wirklich?«
„Nein, nein«, wiegelte ich ab. »Doch die ganze Angst, dass er es vielleicht doch tun könnte, steckt in dem einen Wort.«
»Wenn er es gar nicht wirklich macht«, bemerkte mein Ältester trocken, »braucht man ihn auch nicht so nennen.« Damit war das Thema beendet. Der Fünfjährige gefiel sich in der Rolle des illusionslosen Realisten.
Immerhin, einen Teilerfolg konnte ich schon verbuchen. Während unserer Autofahrten aus dem Kindergarten halten Emil, seine Freundin Hanka und ich manchmal beim »Fleischer«, wie es hier oben im Flachland heißt, und ich flöte dann: »Wer wyll mied zur Medzgeri?«
Wir alle wissen, sie ist großzügig und schenkt jedem Kind ein Würstchen, weshalb die »Lütten« bei ihr sehr gerne einkaufen. Neuerdings benutzt Hanka das neue Wort (»Medzgeri«) sogar bei sich zu Hause und ist nicht gewillt, es wieder abzulegen. Seither sehe ich mich als ein Schmuggler der Worte, der das Fränkische zu den Heiden bringt, in die Diaspora, allerdings nicht mit Blut und Schwert wie weiland die Ordensritter, sondern mit Geist und Geschick und – Würstchen.
Davon abgesehen, weiß Emil einige dialektale Einsprengsel ziemlich gut selbst einzusetzen. Vor einigen Wochen gingen wir in den Zirkus. »Pack bitte die Karten mit den Ermäßigungen ein!“, sagte ich. »Sie liegen in deinem Zimmer.« Als er zurückkam, vergewisserte ich mich, ob er die Karten auch wirklich hatte. Er zeigte sie mir, zog seine Schuhe an und muss sie dann neben den Schuhen liegengelassen haben, was uns erst an der Kasse auffiel … »Emil, du musst an so etwas denken!« ärgerte ich mich. »Ich habe doch gesagt, wie wichtig die Karten sind.«
Emils Augen wurden größer und größer. Dann fiel ihm offenbar etwas ein, und er sah mich gelassen an: »Die Karten, Papa, die habe ich vor lauter Lass-mi-aa-mied vergessen.«
Wer kann bei einer solch schönen Formulierung ernsthaft böse sein?